Stimmt, dennoch finde ich es wichtig dass man mal über Dinge spricht bzw. schreibt, die so dermaßen unpopulär sind dass Politiker sie kaum offen aussprechen können. Um den Rahmen nicht komplett zu sprengen nehme ich mir ein paar deiner Punkte raus:
[list][*]Stellvertretend für das Thema Steuern:
[/list]
Es gab in den letzten drei Jahrzehnten einen durch die Globalisierung bedingten, internationalen Trend zur Unternehmenssteuersenkung (siehe hier). Das kannn man natürlich ignorieren und weiterhin an die 60 % abknüpfen, nur ziehen dann Unternehmen mitsamt ihrem Kapital ins Ausland ab bzw. kommen erst gar nicht nach Deutschland. Das kostet Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Wachstum. Die deutsche Körperschaftssteuer war im internationalen Vergleich in den vergangenen 30 Jahren vergleichsweise immer noch hoch (siehe hier), beständig über’m OECD-Schnitt, zumindest wenn man sämtliche Belastungen für Kapitalgesellschaften in Deutschland, also die Gewerbesteuer plus Soli plus Sozialabgaben, noch dazu nimmt. Selbiges gilt für Personengesellschaften die bis zu 45 % Einkommen- bzw. Gewerbesteuer plus Soli plus Sozialabgaben zahlen.
[list][*]Arbeitsmarkt-/Sozialversicherungs"schweinereien":
[/list]Die aktuellen sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sind unter den aktuellen demographischen Gegebenheiten nicht nachhaltig! Selbst mit den von Dir beschriebenen harten Reformen im Gesundheits- und Rentensystem besteht immer noch eine riesige Finanzierungslücke im Sozialstaat, die von zukünftigen Generationen getragen werden muss. Die Leistungen, die in Deutschland bis in die 90er Jahre gewährt wurden waren möglich, weil relativ viele Beitragszahler für relativ wenige Leistungsbezieher bezahlt haben. Sie wurden außerdem teilweise über Staatsverschuldung bezahlt. Man hat damals brutal über das gelebt, was man selbst erwirtschaftet hat. Jetzt dreht sich das Verhältnis Zahler/Bezieher um, und Staatsverschuldung ist auch nicht mehr bis ins Äußerste möglich, wenn einem an der Zukunft des Euros und der EU gelegen ist.
Bei konstanten Geburtenraten, steigender Lebenserwartung, Rente mit 65, niedriger Nettozuwanderung und ansonsten gleichbleibender Ausgaben- und Einnahmenpolitik steigt die Staatsverschuldung bis 2060 auf über 200 % des BIP. Um bis dahin den heutigen Staatsschuldenstand zu halten (also die „schwarze Null“ bei der Neuverschuldung) müsste man jährlich weitere 23 Milliarden Euro (!) einsparen (Details hier). Dass die Beiträge für Beitragszahler ohnehin schon zu hoch sind hast du ja selber geschrieben, das heißt auf der Einnahmenseite ist auch nicht mehr viel Spielraum. Und das alles ist, wie gesagt, bei Beibehaltung des Status Quo! Wenn die Schröder-Regierung nicht gehandelt hätte sähen die Zahlen noch viel schlimmer aus. Und es sind nicht einfach nur ein paar Zahlen, sondern eine massive Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen, von den volkswirtschaftlichen Auswirkungen ausufernder Staatsverschuldung für unsere Generation mal abgesehen. Und das darf man als Politik nicht einfach ignorieren.
Ein Weg diese Problematik zu verbessern (neben Zuwanderung) wäre es, Arbeitslosen einen möglichst starken Anreiz zu geben vom Leistungsempfänger zum Beitragszahler zu werden. Es gibt noch viele weitere gute Gründe für die Arbeitsmarktreformen, um den Rahmen nicht komplett zu sprengen stichpunktartig: Lange Fortzahlung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung als Falle in die Langzeitarbeitslosigkeit, die statistische Tatsache dass im letzten Bezugsmonat von Geldern aus der Arbeitslosenversicherung der Abgang aus der Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigt, die im OECD-Vergleich noch immer sehr lange Gewährung derartiger Leistungen (siehe internationaler Vergleich hier, relativ weit unten) usw usf.
Du schlägst eine höhere Verschuldung bei den aktuell niedrigen Zinsen vor. Dabei vergisst du aber, dass Staaten zumeist ihre Schulden nicht klassisch „zurückzahlen“, sondern zum Fälligkeitszeitpunkt lediglich umschulden. Angenommen Deutschland nimmt jetzt für 30 Jahre 1 Billion Euro Schulden auf, dann wird diese 1 Billion in 30 Jahren durch die Aufnahme höherer Schulden zurückbezahlt, nur eben dann mit einem höheren Zins und höherem Gesamtschuldenstand. Eine massive Verschuldung Deutschlands würde in letzter Konsequenz auch das Ende des Euros mit den entsprechenden weltwirtschaftlichen und geopolitischen Konsequenzen bedeuten, eine grausige Vorstellung.
[list][*]Stellvertretend für die Auswirkungen der Globalisierung auf Regulierung:
[/list]
Die möglichen negativen Effekte von Hedgefonds hat man in Deutschland aufgrund globalisierter Weltwirtschaft ohnehin, unabhängig von der Frage ob sie in Deutschland zugelassen sind oder nicht. Ob in Frankfurt oder London gegen den Euro gewettet wird ist für den Euro egal. Es stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Verbotes, wenn derartige Geschäfte mit einem Klick ohnehin überall durchgeführt werden können. Die Frage ist also nicht, wollen wir Hedgefonds oder nicht, sie ist viel mehr, können wir etwas tun, um diese Branche besser zu regulieren, oder schauen wir von der Seitenlinie aus zu wie das Steueroasen für uns übernehmen? Durch die Zulassung ermöglicht man dem Finanzstandort Frankfurt außerdem eine Diversifizierung seines Risikoportfolios, was auch gut sein kann, weil diejenigen die auf hohe Rendite aus sind dafür nicht mehr konservativere Instrumente nutzen müssen. Außerdem beseitigt man einen Wettbewerbsnachteil für den Finanzstandort Frankfurt (auch ein entlassener Banker muss irgendwo anders einen Job finden, der dann wiederum jemand anders fehlt). Nur weil Hedgefonds bis 2013 nicht der BaFin unterstellt waren heißt das nicht, dass es keine Regulierung gab. Gerade der Fremdkapitaleinsatz, einer der Hauptgründe für die hohen Renditechancen bei Hedgefonds, ist stark reguliert. Ende 2016 gab es in Deutschland übrigens ganze 14 Hedgefonds (Seite 196). Was ich damit im Kern sagen will, ist: Viele Dinge, die wir als Deutschland gerne (im Fall Hedgefonds vollkommen zurecht) stärker oder anders regulieren würden, entziehen sich dem Bereich des für die BRD möglichen. Das klappt - wenn überhaupt - mit mehr internationaler Kooperation.
Das alles heißt nicht dass die aktuelle Politik alternativlos wäre, dass man im Detail nicht eine andere, bessere, sozialere Politik machen kann, als das die SPD oder die GroKo in den letzten Jahren gemacht hat. Aber am harten Kern dieser Fakten kommt von rechts bis links, von progressiv bis konservativ niemand vorbei.