ich noch einmal wacher als nachts um 2 Uhr. Vielleicht müssen wir ein paar Missverständnisse klären oder die Situation etwas präziser beschreiben, das ist die erwähnte Gemengelage in Brasilen
Es geht hier nicht um einen Protest gegen das Spiel, gegen Fußball, gegen die Fifa, gegen Kommerz im Fußball, wie wir das aus Europa kennen, Reclaim the game und so, sondern es geht um einen gesamtgesellschaftlichen Protest, der sich gegen die herrschenden Zustände im Land richtet. Der Unmut hat sich beim ConFed-Cup erstmals und da noch für alle überraschend Luft verschafft. Auslöser war eine Fahrpreiserhöhung der Busse in Sao Paulo um 20 Centavos pro Fahrt, das sind 7 EURO-Cent. Die Erhöhung wurde zurückgenommen, die Krawalle blieben.
Brasilien hat 10 Jahre Aufschwung hinter sich, die Menschen haben Autos gekauft, viele können konsumieren, endlich, der untere Mittelstand ist um 20 Millionen Menschen angewachsen. Diese Konsumfähigkeit ist ein Erfolg. Aber 10 Jahre Aufschwung haben nicht dazu geführt, dass sich strukturell etwas geändert hat. Die Infrastruktur funktioniert nicht, die Verwaltung funktioniert nicht (was die Urlauber merken werden, wenn sie die Einreise egal wo, Rio, Recife, Fortaleza, Salvador, probieren, es dauert), die Polizei ist korrupt bis gefährlich, pro Jahr werden 2000 unterbezahlte Polizisten ermordet, 4000 Frauen sterben durch häusliche Gewalt ihrer Partner pro Jahr, als gerade in Salvador 2 Tage Streik der Polizisten waren, sind dort 39 Menschen (mehr) ermordet worden. Das Schulsystem funktioniert nicht, wegen des Maracana wurde eine uralte beliebte Schule direkt am Maracana abgerissen, das Gesundheitssystem mit seiner Grundversorgung ist ein Witz. Die Löhne sind niedrig, und bei einem Umrechnungskurs von 1:3 ist die Kaufkraft des Real in etwa wie die Kaufkraft des EUR in München anzusetzen. Vor einem Monat gab es einen Protest in einer Favela oberhalb von Copacabana, bei dem ein unbeteiligter und berühmter Tänzer von der Polizei erschossen wurde. Die Krawalle erstreckten sich dann bis nach Copacabana, wo ich kurz zuvor noch entspannt spazieren konnte. Arbeitsschutz? Siehe Baustellen für die WM. Verzögerungen beim Bau? Die Folge von Korruption.
Und Dilma Rousseff hat keine Antworten darauf, eine weitere starke Mutti, die salbungsvoll redet, aber nichts erreicht. Die zweitstärkste Frau der Welt und ihre Partei vermögen keine Antworten auf die Probleme zu geben.
Keine Ahnung, wie dieses Land überhaupt funktioniert. Die Leute aber merken, dass es so, wie es ist, nicht erträglich ist, und da reichen dann bereits 7 Cent pro Busfahrt, um Straßenschlachten auszulösen.
Agostino: Das hat überhaupt nichts mit Fußball und WM zu tun. Die WM-Gegner werden protestieren, und vielleicht sind sie tatsächlich nicht intelligenter als hier und werden ob der Tore verstummen (der große Fifa-Traum, dass es wie immer funktionieren wird, rollt der Ball, dann sind die Leute begeistert, worauf man ja gerade im Fall von Brasilien gesetzt hat. Ich glaube aber, dass bevor der Fußballprotest verebbt ist, die gesamtgesellschaftliche Randale längst eingesetzt hat.
Übrigens war ich im Januar im Palacio Tiradentes in Rio de Janeiro, dem ehemaligen Parlamentsgebäude Brasiliens, bevor die Regierung dann 1960 nach Brasilia gezogen ist. Januar! Da war es ruhig. Aber alle Fenster sind dauerhaft mit dicken Holzplatten vor Wurfgeschossen gesichert, seit den letzten Krawallen.
So viel vielleicht zur Erwartungshaltung des politischen Establishments, was die WM 2014 betrifft.
Wünschen, um das klarzustellen, tu ich das weder der WM noch denjenigen in Brasilien die sich drauf freuen, auch nicht dem Kraibuger und co. die sollen alle ihren Spaß im schönen und schwierigen Brasilien haben, und vielleicht bleibt es ja ruhig, ich werde mich nicht darüber mokieren, ist mir egal, das wünsche ich meinen brasilianischen Freunden (Mittelklasse) auch, aber Die Situation ist wie beschrieben höchst explosiv, und mir fehlt die Fantasie, dass die Regierungs- und Politikgegner (losgelöst vom Fußball) diese Chance, aufzufallen, nicht nutzen würden. Wenn man dann bedenkt, dass Brasilien wie auch Argentinien insgesamt in seiner Bevölkerung viel gewalttätiger ist als wir in Europa, sind Bedenken angebracht, was den ruhigen Ablauf der WM betrifft.